Sonntag, 15. Dezember 2013

Kindheit im Klische, die unbeschwerte Last der Prägung, ein Geschlechtererbe auf dem Prüfstand



Mit ungefähr acht oder neun Jahren wollte ich Handball spielen. Mein Vater und ich hatten zuvor schon lange ein Spiel entwickelt, in dem wir die Türen zum Bad und die zu meinem Kinderzimmer als Tore deklarierten und mit einem Handball großen gelben Stoffapfel, einem Mitbringsel meines Vaters von einer Australienreise, Applecountry, versuchten jeweils den anderen mit einem gezielten Wurf zu überlisten. Praktischerweise war die Tür zu meinem Kinderzimmer auch mein Tor und wenn mein Vater irgendwann gezielt getroffen hatte (was er ehrlich gesagt des öfteren tat) und der Stoffapfel bereits in der Nähe zu meinem Bett lag, wurden Spiel, Spaß und Tag beendet und ich musste, nicht ohne zu Murren, ins Bett. Mein Vater spielte für die Studentenauswahl der DDR, naheliegend mir diesen Sport als Kind spielerisch beizubringen und nicht weiter verwunderlich, dass ich irgendwann darauf drängte diesen Sport in einer richtigen Mannschaft auszuüben. Glücklicherweise trainierte die Bambini-Jugend der Handballabteilung vom Sportverein Zuffenhausen in der Sporthalle meiner Grundschule, die nur eine Straßenkreuzung entfernt lag, und so fand ich mich kurze Zeit später wieder inmitten lauter Jungs, die alle älter zu ein schien, und einem vielleicht achtzehnjährigen Trainer, der seine langen Haare zu einem Zopf gebunden hatte und auf mich damals einen sehr verwegenen Eindruck machte. Er fragte mich ob ich mir sicher sei, Handball spielen zu wollen, denn dieser Sport sei nichts für Zimperlieschen und obendrein auch noch ziemlich gefährlich. Natürlich war ich dementsprechend beeindruckt, doch auch an der Ehre gepackt, denn ich hatte das Gefühl durch das Spiel mit dem Stoffapfel gewappnet zu sein. Um mir zu demonstrieren das dem nicht so ist, schickte mich der Trainer mit einem süffisanten Lächeln ins Tor, stellte sich an den Sieben-Meter-Punkt und drosch den harten Lederball mit brachialer Kraft in meine Richtung. Nicht mehr als ein Ritual, eine Mutprobe, ein selektiver Moment den es zu bestehen galt. Hier sollten die Weicheier aussortiert werden und sich jene beweisen, die hart genug sind für einen körperbetonten und aggressiven Sport. Doch anstatt mich am Kopf zu treffen oder hinter mir im Tornetz zu landen, prallte der Ball von der Latte ab und flog zurück auf das Spielfeld. Natürlich hatte ich Angst und ich glaube ich hatte die Augen geschlossen, doch ich verstand nicht warum alle lachten. Ist Angst nicht etwas natürliches? Und hatte ich nicht doch gewonnen? Weder Tor noch ich waren gefallen. Als ich diesen Gedanken äußerte verstummte das Lachen, das meiner Angst gegolten hatte und das ich in diesem Moment als erniedrigendes Auslachen empfand, dem ich mich zur Wehr setzen wollte. Diese Mutprobe hatte ich bestanden. Ich war im Team. Aber mir war klar, dass mein Platz beim Handball nie der im Tor sein würde.

Zu dieser Zeit veränderte sich so langsam auch das Klima beim Tennis, der anderen Sportart, an der ich mich versuchte. So langsam wurde einem bewusst, dass es sich im wesentlichen um das Gewinnen dreht, um den Wettkampf und meine Tennistrainer, allesamt Männer, machten mir deutlich, dass man einen Sport entweder richtig betreibt oder gar nicht. Dass es darum geht im Wettkampf zu bestehen, hart zu sein, besser als die anderen. Der spielerische Umgang mit Schläger und Ball wich einem immer straffer werdenden Trainingsplan, die Methoden wurden martialischer und ich wurde einer Struktur unterworfen, die sich später mal mit Siegen bezahlt machen sollte. Vergessen waren die Versuche meiner Mutter, die mich als kleines Kind immer mit zum Kinderballett nahm, wo sie neben ihrem Job als Buchhalterin, Sekretärin und Rückhalt meines Vaters, noch als Lehrerin arbeitete. Doch ich blieb immer eisern am Rand sitzen. Die Treffsicherheit eines Erhard Wunderlich oder der Wahnsinn eines John McEnroe erschienen mir damals imposanter als die Tanzkünste John Crankos. Das triumphale Emporrecken eines Pokals erschien mir erstrebenswerter als das Herumtanzen in Strumpfhosen.

Bis der Sport in mein Leben trat und sich erst als Freizeit ausfüllend, später als Lebensinhalt etablierte, waren es Frauen die im wesentlichen meinen Alltag prägten. Meine Mutter, die Kindergärtnerin und die erste Lehrerin an meiner Grundschule. Frau Gustovic hatte wirre Locken, trug im Winter stets Wollpullover, zumeist mit dicken Rollkragen, im Sommer in braun und rot gehaltene Kleider und auf der Nase eine dickwandige große Brille. Und vor allem war sie eines: ein Universalgenie. Sie führte mich ein in die Schönheit von Sprache, versuchte mich für das Rechnen zu begeistern, brachte mir Grundlagen über Nähen und Häkeln bei, auf die ich in meinem Leben immer wieder zurückkehrte, machte mit uns Ausflüge zur Feuerwehr oder lehrte uns angewandten Heimat- und Sachunterricht, in dem sie mit uns den Mount Scherbelino bestieg. Sie war nicht nur die Stimme vom Buchstabenteufel, sondern auch die vom Sams, konnte singen und erzählen, schlichtete Streit, vermittelte und, zu guter Letzt, stand sie auch in der Turnhalle und ließ die Jungs Fußball spielen, die Mädchen Hula-Hup-Reifen schwingen oder animierte alle gemeinsam zu einer Runde Völkerball, bei der Jungs zeigen konnten wie gut sie werfen können und die Mädchen immer kleine spitze verlachte Schreie ausstießen, wenn sie getroffen wurden. Frau Gustovic war immer und überall, wusste auf alles eine Antwort und war so nichts anderes als der verlängerte Arm meiner Mutter. Während Männer bei mir von Anfang an Siegeswille, Kampfbereitschaft, Aufopferung, Teamgeist und Verschworenheit einforderten, waren es die Frauen, die einen förderten, die einem machen ließen, Konflikte scheinbar mit einem Handwisch lösen konnten. Zu Hause. Im Kindergarten. In der Grundschule. In meiner Kindheit war das der vermeintliche Frieden zwischen den Geschlechtern, den ich erfuhr. Frauen holten ihre Söhne von Kindergarten, Grundschule und Sport ab, stellten das Essen auf den Tisch und kümmerten sich um den Haushalt. Als Kind nahm ich Frauen eigentlich gar nicht als solche wahr. Frauen waren Mütter.

Als ich älter wurde, erzählte mir meine Mutter, dass sie nicht studieren durfte. Als zweitgeborene unter zwei Schwestern war ihr das nicht vergönnt. Auch das Abitur wurde ihr vorenthalten. Nicht alle Töchter können studieren, war die Maxime meiner Großeltern, die sich voll und ganz dem Arbeiter und Bauernstaat verschrieben hatten. Sie hatte das nie als Makel empfunden, aber als verpasste Chance. Als mein Vater, nachdem sie 1961 aus der DDR in den Westen kamen, erfolgreich an der Universität in Stuttgart Fuß gefasst hatte, arbeitete sie als wissenschaftliche Assistentin. Eines Tages fragte der Professor, ob sie nicht Lust hätte bei ihm zu promovieren. Die Tränen meiner Mutter beim Erzählen machten wir deutlich, wie sehr sie zeitlebens darunter gelitten hatte, dieses Angebot nicht wahrnehmen zu können. Der Zug war abgefahren. Es gibt nichts schlimmeres, als wenn einem Möglichkeiten verwehrt bleiben und Menschen irgendwann feststellen, dass sie nicht das machen konnten, wozu sie eigentlich befähigt gewesen wären, nicht das, was einen wirklich interessiert, nicht das, was einen erfüllt. 

Ich bin mir übrigens sicher, dass auch ich, sollte mich irgendwann das Vaterglück ereilen, mit etwas was einem gelben Stoffapfel in der Größe eines Handballs gleicht, dieses alte Spiel, das einst mein Vater etablierte, mit meinem Sohn spielen werde. Und selbstverständlich auch mit meiner Tochter. Und falls das der einen oder dem anderen nicht gefallen sollte, dann geht es halt zum Ballett.