Mit ungefähr acht oder neun Jahren
wollte ich Handball spielen. Mein Vater und ich hatten zuvor schon
lange ein Spiel entwickelt, in dem wir die Türen zum Bad und die zu
meinem Kinderzimmer als Tore deklarierten und mit einem
Handball großen gelben Stoffapfel, einem Mitbringsel meines Vaters
von einer Australienreise, Applecountry, versuchten jeweils den
anderen mit einem gezielten Wurf zu überlisten. Praktischerweise war
die Tür zu meinem Kinderzimmer auch mein Tor und wenn mein Vater
irgendwann gezielt getroffen hatte (was er ehrlich gesagt des öfteren
tat) und der Stoffapfel bereits in der Nähe zu meinem Bett lag,
wurden Spiel, Spaß und Tag beendet und ich musste, nicht ohne zu
Murren, ins Bett. Mein Vater spielte für die Studentenauswahl der
DDR, naheliegend mir diesen Sport als Kind spielerisch beizubringen
und nicht weiter verwunderlich, dass ich irgendwann darauf drängte
diesen Sport in einer richtigen Mannschaft auszuüben.
Glücklicherweise trainierte die Bambini-Jugend der Handballabteilung
vom Sportverein Zuffenhausen in der Sporthalle meiner Grundschule,
die nur eine Straßenkreuzung entfernt lag, und so fand ich mich
kurze Zeit später wieder inmitten lauter Jungs, die alle älter zu ein
schien, und einem vielleicht achtzehnjährigen Trainer, der seine
langen Haare zu einem Zopf gebunden hatte und auf mich damals einen
sehr verwegenen Eindruck machte. Er fragte mich ob ich mir sicher
sei, Handball spielen zu wollen, denn dieser Sport sei nichts für
Zimperlieschen und obendrein auch noch ziemlich gefährlich.
Natürlich war ich dementsprechend beeindruckt, doch auch an der Ehre
gepackt, denn ich hatte das Gefühl durch das Spiel mit dem
Stoffapfel gewappnet zu sein. Um mir zu demonstrieren das dem nicht
so ist, schickte mich der Trainer mit einem süffisanten Lächeln ins
Tor, stellte sich an den Sieben-Meter-Punkt und drosch den harten
Lederball mit brachialer Kraft in meine Richtung. Nicht mehr als ein
Ritual, eine Mutprobe, ein selektiver Moment den es zu bestehen galt.
Hier sollten die Weicheier aussortiert werden und sich jene beweisen,
die hart genug sind für einen körperbetonten und aggressiven Sport.
Doch anstatt mich am Kopf zu treffen oder hinter mir im Tornetz zu
landen, prallte der Ball von der Latte ab und flog zurück auf das
Spielfeld. Natürlich hatte ich Angst und ich glaube ich hatte die
Augen geschlossen, doch ich verstand nicht warum alle lachten. Ist
Angst nicht etwas natürliches? Und hatte ich nicht doch gewonnen?
Weder Tor noch ich waren gefallen. Als ich diesen Gedanken äußerte verstummte das Lachen, das meiner
Angst gegolten hatte und das ich in diesem Moment als erniedrigendes
Auslachen empfand, dem ich mich zur Wehr setzen wollte. Diese
Mutprobe hatte ich bestanden. Ich war im Team. Aber mir war klar,
dass mein Platz beim Handball nie der im Tor sein würde.
Zu dieser Zeit veränderte sich so
langsam auch das Klima beim Tennis, der anderen Sportart, an der ich
mich versuchte. So langsam wurde einem bewusst, dass es sich im
wesentlichen um das Gewinnen dreht, um den Wettkampf und meine
Tennistrainer, allesamt Männer, machten mir deutlich, dass man einen
Sport entweder richtig betreibt oder gar nicht. Dass es darum geht im
Wettkampf zu bestehen, hart zu sein, besser als die anderen. Der
spielerische Umgang mit Schläger und Ball wich einem immer straffer
werdenden Trainingsplan, die Methoden wurden martialischer und ich
wurde einer Struktur unterworfen, die sich später mal mit Siegen
bezahlt machen sollte. Vergessen waren die Versuche meiner Mutter, die
mich als kleines Kind immer mit zum
Kinderballett nahm, wo sie neben ihrem Job als Buchhalterin, Sekretärin und Rückhalt meines
Vaters, noch als Lehrerin arbeitete. Doch ich blieb immer eisern am
Rand sitzen. Die Treffsicherheit eines Erhard Wunderlich oder der
Wahnsinn eines John McEnroe erschienen mir damals imposanter als die
Tanzkünste John Crankos. Das triumphale Emporrecken eines Pokals
erschien mir erstrebenswerter als das Herumtanzen in Strumpfhosen.
Bis der Sport in mein Leben trat und
sich erst als Freizeit ausfüllend, später als Lebensinhalt
etablierte, waren es Frauen die im wesentlichen meinen Alltag
prägten. Meine Mutter, die Kindergärtnerin und die erste Lehrerin
an meiner Grundschule. Frau Gustovic hatte wirre Locken, trug im
Winter stets Wollpullover, zumeist mit dicken Rollkragen, im Sommer
in braun und rot gehaltene Kleider und auf der Nase eine dickwandige
große Brille. Und vor allem war sie eines: ein Universalgenie. Sie
führte mich ein in die Schönheit von Sprache, versuchte mich für
das Rechnen zu begeistern, brachte mir Grundlagen über Nähen und
Häkeln bei, auf die ich in meinem Leben immer wieder zurückkehrte,
machte mit uns Ausflüge zur Feuerwehr oder lehrte uns angewandten
Heimat- und Sachunterricht, in dem sie mit uns den Mount Scherbelino
bestieg. Sie war nicht nur die Stimme vom Buchstabenteufel, sondern auch die vom Sams, konnte singen und erzählen, schlichtete Streit,
vermittelte und, zu guter Letzt, stand sie auch in der Turnhalle und
ließ die Jungs Fußball spielen, die Mädchen Hula-Hup-Reifen
schwingen oder animierte alle gemeinsam zu einer Runde Völkerball,
bei der Jungs zeigen konnten wie gut sie werfen können und die
Mädchen immer kleine spitze verlachte Schreie ausstießen, wenn sie
getroffen wurden. Frau Gustovic war immer und überall, wusste auf
alles eine Antwort und war so nichts anderes als der verlängerte Arm
meiner Mutter. Während Männer bei mir von Anfang an Siegeswille,
Kampfbereitschaft, Aufopferung, Teamgeist und Verschworenheit
einforderten, waren es die Frauen, die einen förderten, die einem
machen ließen, Konflikte scheinbar mit einem Handwisch lösen
konnten. Zu Hause. Im Kindergarten. In der Grundschule. In meiner Kindheit war das der vermeintliche Frieden
zwischen den Geschlechtern, den ich erfuhr. Frauen holten ihre Söhne
von Kindergarten, Grundschule und Sport ab, stellten das Essen auf
den Tisch und kümmerten sich um den Haushalt. Als Kind nahm ich
Frauen eigentlich gar nicht als solche wahr. Frauen waren Mütter.
Als ich älter wurde, erzählte mir
meine Mutter, dass sie nicht studieren durfte. Als zweitgeborene
unter zwei Schwestern war ihr das nicht vergönnt. Auch das Abitur
wurde ihr vorenthalten. Nicht alle Töchter können studieren, war
die Maxime meiner Großeltern, die sich voll und ganz dem Arbeiter
und Bauernstaat verschrieben hatten. Sie hatte das nie als Makel
empfunden, aber als verpasste Chance. Als mein Vater, nachdem sie
1961 aus der DDR in den Westen kamen, erfolgreich an der Universität
in Stuttgart Fuß gefasst hatte, arbeitete sie als wissenschaftliche
Assistentin. Eines Tages fragte der Professor, ob sie nicht Lust
hätte bei ihm zu promovieren. Die Tränen meiner Mutter beim
Erzählen machten wir deutlich, wie sehr sie zeitlebens darunter
gelitten hatte, dieses Angebot nicht wahrnehmen zu können. Der Zug
war abgefahren. Es gibt nichts schlimmeres, als wenn einem
Möglichkeiten verwehrt bleiben und Menschen irgendwann feststellen,
dass sie nicht das machen konnten, wozu sie eigentlich befähigt
gewesen wären, nicht das, was einen wirklich interessiert, nicht das,
was einen erfüllt.
Ich bin mir übrigens sicher, dass
auch ich, sollte mich irgendwann das Vaterglück ereilen, mit etwas
was einem gelben Stoffapfel in der Größe eines Handballs gleicht,
dieses alte Spiel, das einst mein Vater etablierte, mit meinem Sohn
spielen werde. Und selbstverständlich auch mit meiner Tochter. Und
falls das der einen oder dem anderen nicht gefallen sollte, dann geht
es halt zum Ballett.