Als die Wochenzeitung Die Zeit mit dem
wohl als Fanal gedachten Titelthema „Not am Mann – Das
geschwächte Geschlecht“ (Die Zeit No. 2, 2. Januar 2014, Seite 11
ff.) ins neue Jahr startete und ich gegenüber meiner Frau äußerte,
dass ich nicht verstehen würde, warum dieser Sichtweise bzw. diesem
Phänomen medial so viel Platz eingeräumt wird - weil es ja doch
nicht um die Schwächung eines Geschlechts gehen würde bzw. sollte,
sondern vielmehr um die Chance, Geschlecht als Alleinstellungsmerkmal
zu überwinden und nicht ein Geschlecht zu schwächen, sondern alle
zu stärken - meinte sie, ich solle mich doch dem Thema
„Schmerzensmann“ textlich einmal annehmen. Ich muss an der Stelle
hinzufügen, dass meine Frau sich als Feministin versteht und
dementsprechend Begrifflichkeiten wie „Schmerzensmann“ und
„Mansplaining“ nicht nur zum allgemeinen Sprachschatz eines sich
wehrenden, angriffslustigen und kommunizierenden Feminismus gehören,
sondern auch zum Positionierungsrepertoire des alltäglichen Ehe- und
Beziehungswahnsinns. Das Private und das Politische nicht zu trennen,
gehört in unserer Ehe zur Notwendigkeit des Seins. Das macht es
oftmals nicht leichter, da man selbst nicht unbedingt als Phänomen
betrachten werden möchte, sondern als Individuum, dass seinen
Fehlbarkeit, seine Not, seine Sehnsüchte und Träume und speziell
seinen Schmerz nicht als Teil einer Kultur sieht, die sich gegenüber
eines anderen Geschlechts behaupten möchte oder muss, sondern als
Teil der eigenen Persönlichkeit, die sich sicherlich zwar auch über
die Dazugehörigkeit zu einem Geschlecht definiert, aber eben auch
losgelöst und unabhängig davon weiterentwickeln kann, darf und
muss. Übrigens eine Grundvoraussetzung, sollen soziale Bewegungen
tatsächlich Veränderung bewirken und nicht nur dem eigenen
Positionierungsdenken dienen.
Ich liebe meine Frau dafür, dass sie
so ist und so denkt, dass sie den eigenen Karriereanspruch und die
Sehnsucht nach Familie und einem Zuhause mit dem Ideal einer Bewegung
so in Verbindung bringt, dass daraus eine laute Stimme und eine
Haltung entstehen, die kommunizierbar ist und Grundlagen des
Verhandelns bietet. Dass der Feminismus nicht vor der Haustüre Halt
macht und einen (Ehe-)Mann fordert, gehört nun mal dazu. Bewusste
Entscheidungen zeichnen doch auch heute noch jene aus, die lernen,
verändern und verbessern möchten.
Neulich habe ich festgestellt, dass
wenn ich in Situationen komme, in denen eine oder mehrere mir fremde
Mädchen oder Frauen zufällig direkt vor mir laufen, ich kurz meine
Schrittfrequenz erhöhe um vorbei und vor ihnen laufen zu können.
Ich glaube das zu machen, weil ich irgendwann gemerkt hatte, dass ich
so zumindest dem Gefühl taxiert, verfolgt oder bedroht zu werden,
vorbeugen kann. Ich habe diese Handlungsweise tatsächlich noch nicht
weiter und tiefer gehend reflektiert, aber wenn ich ehrlich bin,
möchte ich das auch nicht. Ich fühle mich dadurch nicht eingeengt
oder beschränkt. Ich mache das, weil ich das Gefühl habe, es sei
richtig und weil ich glaube, dass es als Mann wichtig ist, in und mit
seinen Handlungen und Haltungen zu zeigen, dass man uneingeschränkt
dafür eintritt, dass Geschlechter sich auf Augenhöhe begegnen und
nicht gegen, sondern miteinander kämpfen. Ein ungutes Gefühl hat da
nichts zu suchen.
Mir fällt es also schwer, mich dem
Thema "Schmerzensmann" zu nähern, weil sich mir nicht ganz erschließt,
was diesen Schmerz, der zu dieser Begrifflichkeit führt, tatsächlich
auslöst (das eigene Scheitern kann es wohl kaum sein) und ich habe
mich an anderer Stelle schon oft gefragt, was jene eigentlich
verteidigen möchten, die sich lauthals und mit Vehemenz zu diesem
Thema und äußern und einen fortwährenden Backlash erzeugen, der
darauf schließen lässt, dass es unserer modernen Gesellschaft und
speziell vielen Meinungsführen doch schwerer fällt die Metaphysik
einer als normal betrachteten Grundordnung in Frage zu stellen, dass
es schwer fällt, die starken, aus Vergangenheit und Erwartung
geformten Bilder in Frage zu stellen, den Vater, die Mutter, den
Staat, das Normativ von Familie, Arbeitsteilung und
Geschlechterodierung, die Traditionen und Vorurteile.
Wo bleibt also der investigative Mut
und Wille von Autoren, Journalisten und Kunst- und Kulturschaffenden,
Themenkomplexe auf die Art und Weise abzubilden und zu erweitern,
dass sie für einen gesellschaftlichen Diskurs mehr zu bieten haben
als eine in Weltbild und Glaube manifestierte und untermauerte
Haltung, die in ihrem Denken und Danken an historisch lange
gewachsene und familiär, regional und staatlich sanktionierte Dogmen
gekoppelt ist, die für neue Generationen, Umstände und globale
Herausforderungen im Jetzt und in der Zukunft schon lange nicht mehr
so synchronisierbar sind, dass sie einerseits einer
moral-gesellschaftlichen Weiterentwicklung nicht schaden,
andererseits ihre ursprüngliche Botschaft in Trostgebung,
Sinnstiftung, Vergebung und Welterklärerung weiter als einer der
Maßstäbe für eine neue Moral des Miteinander gelten dürfte. Warum
rütteln wir nicht alle gemeinsam an den Grundfesten unserer
Gesellschaft? Sind wir alle so glücklich, so gesegnet, zufrieden und
reich, dass keiner Angst haben muss, dass sich die Welt vielleicht
doch mal gegen ihn stellt? Wie kann es sein, dass auf so vielen
Ebenen versucht wird, eine Aktion wie die um den Hashtag #Aufschrei,
nach nur einem Jahr hämisch und abwertend marginalisieren zu wollen
und sowohl Protagonistinnen, als auch die Masse jener Mädchen und
Frauen, die diese Chance eine Stimme zu erhalten genutzt haben, als
Schreibtischtäter und als frustriert diffamiert werden. Liegt es daran, dass das
Internet keine männliche Kontrolle zulässt? Oder warum werden
Kirche und Religion nicht hinterfragt? Haben wir uns getäuscht und
sind doch nicht bereit für einen Paradigmenwechsel? Oder möchte ihn die Gesellschaft nicht?
Das Dulden der Kirchen im großen
Rahmen, das Zugestehen einer derart großen gesellschaftlichen
Funktion als Meinungs- bzw. Glaubensführer und die in unserer
Gesellschaft und Staatsstruktur tief verankerten, karitativen und
seelsorgerischen und scheinbar auf Pragmatik und Nächstenliebe
getrimmten Dienstleistungen, legitimieren seit je her auf subtile
Weise die Verbreitung kirchlicher Lehren als missionarische Rettung
verlorener Seelen und die konkrete Einflussnahme von Kirche und
Glauben auf den Alltag, die Selbstbestimmung und die Lebensrealität
von Menschen in regionalen Brennpunkten, in denen die
westlich-progressive Wertegemeinschaft und der Rest der vielleicht
ansatzweise säkularen und freiheitlichen Weltgemeinschaft, als
abstrakte Form des Zusammenhalts, keinen Einfluss hat bzw. nur so
bedingt, dass man punktuell Folgen und Verstörung auffangen kann,
weder aber das Handeln aus Überzeugung, noch die eine Lebensführung
bestimmende Prägung. Ähnlich und analog dazu, wie Geldwirtschaft,
Industrie und Konsumgesellschaft ihren Reichtum darauf aufbauen, an
gewissen Stellen des Systems einfach keinen Reichtum zuzulassen, so
ähnlich okkupieren jahrhunderte, zuweilen jahrtausende alte
Glaubensdirektiven den Denkraum, den es braucht, damit Menschen sich
selbst und sich als Teil einer Gemeinschaft weiterdenken und Kulturen
und Visionen sich finden und verwachsen können. Es geht nicht nur um
das Biotop der eigenen, kleinstaatlichen Zielgebung und -führung. Es
geht um eine Welt, die ihren Allmachts- und Führungsanspruch über
das vermeintliche perpetuum mobile der kapitalistischen
Innovations- , Konsum- und Glücksmaschine immer weiter und
umfassender etabliert und durch eine gut verkaufte (und verkaufende)
Erfolgsgeschichte auch scheinbar legitimiert. dabei werden
konkurrierende Modelle und Wertesysteme schon lange nicht mehr
diskreditiert, sondern einverleibt, aufbereitet und verwertbar
gemacht und im Narrativ der Erfolgsgeschichte weitererzählt.
Es ist daher richtig, dass eine
Generation, die sich im wesentlichen über Konsum und Kommunikation
definiert, sich nicht nur an der institutionellen Geldvermehrung und
ihren Ausgrenzungsmechanismen, sondern auch an der katholischen und
anderen Kirchen, an Glaube, Religion und Moral abarbeitet und
Selbstverständnis, Zweck, Funktion und gesellschaftlichen Mehrwert
in Frage stellt und nach Abwägung dieser gewonnenen Erkenntnis mit
der eigenen Haltung bzw. dem eigenen Haltungsanspruch für sich
dementsprechende Konsequenzen zieht, egal ob diese in
Systemablehnung, Verweigerung, Unterstützung, Protest, Widerstand
oder in einem wie auch immer-gearteten und motivierten Aktivismus
münden.
Josephine Witt hat genau dies getan,
als sie während der Messe am ersten Weihnachtsfeiertag mit dem
Slogan „Ich bin Gott“ auf der nackten Brust den Altar im Kölner
Dom erklomm und im Namen und im Stile der Widerstandsgruppierung
'Femen' lautstark und aus voller Kehle protestierte. Wahrscheinlich
gegen katholische Unfehlbarkeit, gegen das katholische
Abtreibungsdogma und gegen die Unterdrückung der Frau innerhalb der
Kirche, gegen das Negieren homo- und anderer sexueller Realitäten
und auch gegen den damit einhergehenden gesellschaftlichen
Wurmfortsatz im kulturell auf religiöser und kirchlicher
Glaubensprägung basierenden Wertealltag, der sich aus dem
europäischen Narrativ einer christlichen Kulturgeschichte speist,
auf Reformation, Aufklärung und Moderne. Ihr und anderen Kritikern
christlicher Kirchen, speziell der katholischen, vorzuwerfen, sie
würden sich an der 'falschen' Religion abarbeiten, da der
theokratische Anspruch des Islams doch eine viel größere Bedrohung
für unser Verständnis von Zusammenleben darstellt, ist schlicht dem
Umstand geduldet, nicht zu Ende gedacht zu haben. Es fällt halt
einfacher eine junge Frau zu diskreditieren.
Betrachtet man das Ausmaß der
Reaktionen auf diese, zur Weihnachtszeit bestens platzierte
Protestaktion, sei es im Boulevard, in der Presse, an den
Stammtischen, in den Sozialen Netzwerken und in der rechtsfrei
anmutenden Kommentarkultur des Internets, dann muss man feststellen,
dass die Wirkungswelle feministischer Aufruhr einer einzelnen Person
den selbstgerechten Damm visionärer Ignoranz ebenso überrollt hat,
wie das im vergangenen Jahr bereits für kurz dem Hashtag #Aufschrei
gelang (das soll keine was Wirkung und Intensität keine
vergleichende Aussage zwischen beiden Aktionen sein). Erstaunlich
auch das Dulden und Erklären von struktureller Gewalt, als ein
männlicher, älterer Kirchgänger die Chance ergriff, der bereits
von mehreren Männern gestellten und im Begriff der Abführung
befindlichen Josephine Witt, aus sicherer Distanz, eine
selbtjustizielle Ohrfeige zu verpassen. Solidarität unter Männern
hat hier wahrlich nichts zu suchen.
Diese Ohrfeige im Kölner Dom scheint
wie ein später Reflex einer Generation von Männern, die seit Beate
Klarsfeld 1968 den damaligen Bundeskanzler Kiesinger ohrfeigte,
darauf warten, es 'denen mal zu zeigen'. Klarsfeld hatte mit dieser
Ohrfeige jedoch Gewalt symbolisiert, nicht ausgeübt. Ähnlich
verhält sich Widerstand wie der, den Jospehine Witt im Kölner Dom
geleistet hat. Wenn eine Institution, speziell eine einem Glauben
verschriebene, sich veränderten Umständen bzw. gesellschaftlichen
Um- und Aufbrüchen nicht stellt, verwirkt sie auch ihr Recht auf
freie und ungestörte Ausübung. Entsteht eine Reaktion wie diese
Ohrfeige für Josephine Witt, also das Hinzuziehen von tatsächlich
ausgeübter Gewalt, durch eine als Beleidigung und Provokation und
nicht als Widerstand wahrgenommene Geste bzw. Aktion, so ähnlich,
wie das nicht nur bei bildungs- und reichtumsfernen Schichten
beliebte Eskalieren der „Ich-ficke-Deine-Mutter-Kultur“, dann ist
das weder Erklärung noch Rechtfertigung. Wer das anders sieht, kann
auch noch nicht verstehen, warum Frauen bzw. Feministinnen scharf und
bestimmt anprangern, verurteilen und bekämpfen und wird sich weiter
angegriffen fühlen, wenn junge Feministinnen gut aussehen, sexuell
offen und erfüllt sind, erfolgreich berufliche Existenz mit der
eigenen Meinungsbildung verknüpfen und mit diskursiver Reichweite
ihre Interessen und Ziele kommunizieren und sich weiter
zusammenschließen. Wenn sie dann noch die Insignien
christlich-kapitalistischer Moralkuktur, wie die Ehe und
Familienstrukturen, okkupieren und neue Deutungshoheiten erzeugen
bzw. beschließen, wird die selbstauferlegte Opferrolle zum
ohnmächtigen Moment des Zusammenschlusses und erst dann wird der
Begriff 'Schmerzensmann' ein malediktologischer.
Abschließend kann ich nicht ausschließen, zuweilen auch einem Mechanismus zu verfallen, der mich, zumindest temporär, zu einem "Schmerzensmann" werden lässt. Doch nur die eigene Fehlbarkeit motiviert zur Reflexion oder zu diesem Text.