Über Gammler, Zen und hohe Berge reden


Mit sechzehn wollte ich weg. Etwas anderes sehen. Die Stadt, die Freunde und die Gewohnheiten verlassen. Natürlich auch die Schule, die leidigen Lehrer, die zu erwartenden schlechten Noten und meine mir als unerreichbar scheinende Jugendliebe Isabel. Also einer dieser pubertären Fluchtversuche, aus denen man eigentlich nur heil rauskommen kann, wenn man nicht alleine mit sich gelassen wird. Mein Vater wusste das und gab mir eine von ihm bereits verlesene Taschenbuchausgabe von Jack Kerouacs „Gammler, Zen und hohe Berge“ mit auf meine Reise nach Neuseeland, eine offensichtlich ältere Ausgabe, eine ohne Glanzfolienkaschierung oder Drucklack.

Heute weiß ich, wie zeremoniell dieser Moment war, damals wusste ich es nicht, ich war nicht eingeweiht und in diesem Fall, wie sich herausstellen sollte, kann man sich nur selbst einweihen. Aber es kam, wie es wohl kommen musste: dieses Buch über das Reisen und Entdecken, dieses Meisterwerk über das Finden von Sprache und dem Werden und Wachsen wurde in den acht Monaten auf der anderen Seite der Erdkugel mein ständiger Begleiter, mein Ratgeber und Leitfaden, mein Gesangsbuch und meine Gute Nacht- Geschichte und die Protagonisten Sal, Dean, Ed und all die anderen Verrückten wurden Freunde und noch viel mehr: sie wurden Verbündete in einer jetzt neuen Welt, die von da an stetig wuchs, sich immer weiter ausdehnte und viel erklärt von dem, was ich heute selbst glaube zu sein oder vielmehr, was ich glaube sein zu wollen: eingeweiht. Jack Kerouacs bekanntestes Buch ist sicher der Roman „Unterwegs“, aber das ist vielleicht ähnlich wie bei Hermann Hesses Büchern „Der Steppenwolf “ und „Die Morgenlandfahrt“: das eine ist dicker, hat mehr Umfang, mehr Namen, Orte, Rätsel, Mysterien und mäandert in seine eigene, große Sagenwelt. Das andere ist schmaler und weniger verzweigt, kommt schneller zu einem Punkt und offenbart sich direkter, ohne dabei jedoch weniger mystisch zu sein. Mit Kerouac und „Gammler, Zen und hohe Berge“ hat nicht nur bei mir viel angefangen und es dauerte nicht lange, bis ich auch die Gedichte und Geschichten von Gregory Corso, Allen Ginsberg, und Gary Snyder verschlungen hatte und während ich noch las, hatte ich bereits meine ersten Texte geschrieben. Doch das Leben hört nicht auf zu beißen, man fängt an zu vergessen, verliert seine große Liebe, verlässt seine Stadt und verliert sich zwei Jahre in Berlin.

Und dann, wie aus dem Nichts, ist man wieder mittendrin. Man sitzt in einem Berliner Mitte-Club auf einem Sofa im Gang, eine Freundin bringt einen Freund mit, man stellt sich vor, man fängt an zu reden, trinkt Whiskey-Cola oder etwas mit Limettensaft und Alkohol, nutzt die letzten Monate ohne das drohende Rauchverbot in Gastrobetrieben und redet einfach weiter und weiter. Über Berlin und England und Wales und Whiskey, über Kinder und das Reisen, über Kunst und Freunde und das Leben im Allgemeinen und im Besonderen und beim Besonderen trifft man sich und plötzlich denkt man, Sal höchstpersönlich hätte auf seiner Reise hier halt gemacht, um als schützender Engel darüber zu wachen, dass wir das jetzt auf keinen Fall verpassen oder vermasseln.

Die Location stimmt, ebenso das Licht und ins zweite Break bei „Saturate“ von den Chemical Brothers fährt plötzlich die Stimme von Frank Black: „With your feet in the air and your head on the ground“. Ja, ungefähr so. Bitte noch mal.

Und während der aufkommende Morgen bereits mahnt, man möge sich doch bitte der letzten Sommertage annehmen und für die bald kommenden grauen und kalten Tage noch etwas Energie auftanken, liege ich die Nacht und alles rekapitulierend im Bett und stelle mir die Frage, wann ich hier, in Berlin-Mitte, zuletzt derart ursprünglich und emotional mit jemandem über das reden konnte, von dem ich zuweilen schon dachte, es sei bei mir verschütt gegangen und ich stelle mit Erschrecken fest, dass ich das nicht einmal sagen, geschweige denn datieren kann. Aber die Macht der Gewohnheit oder die Tatsache, dass die Folgen kontinuierlichen Abstumpfens tiefer sitzen als alkohol-oder wie-auch-immer-geschwängerter nächtlicher Heroismus, verleiten mich zum Anschalten des Fernsehers. Und wie es der viel beschworene Zufall so will, erhasche ich einen Trailer, der auf einen Film am Abend hinweist, in den Hauptrollen Julia Roberts und Jude Law und ich denke, während ich den Fernseher wieder in den Stand-By-Zustand versetze, ein paar Stunden zurück, wie Jude, mich beschwörend anblickend, ein Gedicht des großen Charles Bukowski rezitiert, über den ‚Booze’ und die ‚Girls’ und den ‚Booze’ und die ‚Girls’ und wir beide die ganze Zeit wussten, wie gut es ist, treue Verbündete zu haben.


Für Vanity Fair, 2008