Es
wird nicht unbedingt schöner. Auch nicht bei Nacht. Doch es
verändert sich. Er hatte ausreichend Zeit das zu Beobachten.
Baustellen gibt es immer wieder. Die ganze Straße ist eine
Baustelle. Nicht dass da überall Kräne herumstehen würden. Nein.
Nicht hier in der angesagten Mitte. Es ist mehr Flickwerk. Mal da.
Mal da. Eine Mulde für Schutt. Drei Bauzaunelemente, die einen
Sandhaufen beschützen. Ein Gerüst an einem von Abgasen und
Stadtstaub vergorenen Wohnungszweckbau aus den Sechzigern, der es
wirklich bitter nötig hat gentrifiziert zu werden. Eine Dixie-Klo
vor einer sich im Umbau befindlichen Location in Ladenoptik. Gestern
noch Pop-Up-Store für ein aufstrebendes oder bereits dem Niedergang
anheim gefallenes Modelabel. Heute im Umbau, mit Packpapier zur
Uneinsicht verklebt. Morgen eine Bar mit DJ und starken Longdrinks,
vorzugsweise Gin oder Vodka Tonic. Definitiv mehr als 2cl. Von außen
nicht so richtig als Bar erkennbar. Weder als der Hot Spot, von dem
alle reden. Alle. Die Stadt. Die Freunde. Die vermeintlichen. Die
vielen. Natürlich gibt es einen Türsteher.
Es
wird selektiert. Mehr schlecht als recht. An der Tür zur Bar. Bei
der Wahl der Geschlechtspartner. Bei der Neuvergabe von
individualistischer Lebensart und Weise im Zentrum von Berlin.
Weltstädtisch. Man gibt sich. Ein unentwirrbares Zusammenspiel von
Investitionen und Gleichgültigkeit. Was kümmert die Geschichte. Was
kümmern die Geschichten. Des Teufels Wandelbarkeit liegt im Detail.
Einen Plan gibt es nicht. Weder zur Bebauung. Noch zur Zukunft. Auch
wenn man fleißig auf sie baut.
Es
ist das Geld, das plant. Und es ist das Geld, das baut und verändert.
Nicht nur das Straßenbild und die Fassaden. Auch die Menschen. Die
Bewohner. Die Einwohner. Die real-existierende Summe derer, die durch
ihr und das Leben im Kleinen und im Ganzen der Komposition aus Glas,
Stahl und Stein überhaupt erst eine Berechtigung des Seins verleiht.
Einen Zweck. Einen Glauben. Hier leben Menschen. Hier wollen Menschen
leben. Hier finden sie ihr Zuhause. Hier finden sie eine Heimat. Und
sie glauben daran. Ganz egal woher sie kommen. Sie haben davon
gehört. Sie haben es gesehen. Und wenn sie nicht einfach dafür
zahlen können, dann finden sie eben ein Schlupfloch in diesem Zaun,
der Anstand von Wohlstand trennt.
Er
kennt auch diese Grenzgänger. Speziell die Grenzgänger. Er ist
zuweilen mit ihnen gewachsen. Hat Triumphe und Eskapaden bestaunt.
Die zwangsläufig eintretenden Allmachtsphantasien belächelt.
Manchmal hat er sie fallen gesehen. Anständig geblieben sind dabei
die wenigsten. Manchmal hat er sie fallen lassen. Um sie zu
Beschützen. Um sich selbst zu Schützen. Manchmal sieht er einen im
Fernsehen. Doch was die alle wirklich so machen, interessiert ihn
eigentlich nicht. Es ist nicht die Welt in der er lebt. Es ist ein
Job. Irgendwann wird es vielleicht mal so sein, dass man sich auf
Augenhöhe begegnet. Er parkt den Wagen unauffällig hinter einem
Bauwagen und wählt eine Nummer. Er lässt es zweimal klingeln, dann
dreht er mit der rechten Hand das Radio runter und genießt für
einen Augenblick die das Innere des Wagens einnehmende Stille.
Timing
ist alles in diesem Job. Man muss sich als Dienstleister verstehen.
Als jemand, der in Demut und Bescheidenheit seinen Job macht. Und das
richtig. Und gut. Es gibst selten jemand in dieser Branche, der von
sich behaupten kann, seinen Job wirklich ernst zu nehmen, Den Meisten
geht es nur um das Geld. Genauer formuliert: Um die Wertschöpfung.
Die Rechnung war, ist und wird immer einfach bleiben. Die Nachfrage
bestimmt das Angebot und der Anbietende bestimmt den Preis. Denn
eines ist wichtig: Am Preis kann man was drehen. An der Qualität
nicht. Die Qualität ist die Grundlage. Der Vertrauensbeweis.Und es
geht nicht um gleichbleibende Qualität. Es geht um die jeweils
beste. Da darf man keine Kompromisse machen. Sein Produkt ist ein
Klassiker. Ein Evergreen. Eine Marke. Kein Partydroge aus den
Neunzigern. Es ist ein Mythos, über den man nicht spricht. Ein
offenes Geheimnis einer weites gehend geschlossenen Gesellschaft.
Der
schlimmste Feind ist die Gier. Die eigene. Und die der anderen. Und
die Stadt ist voll davon. Das macht vor keiner Branche halt. Das
schnelle Geld. Der schnelle Erfolg. Die Macht. Der Sex. Die Drogen.
Er hat das nie verstanden. Muss er auch nicht. Will er auch nicht. Er
glaubt die Gier gespürt zu haben. Aber wenn das wirklich so sein
sollte, dann hat er sie gezügelt. Besiegt. Nicht einfach. Man darf
so etwas nicht anfangen ohne weit und breit angelegte Exit-Strategie.
Und heute ist es soweit. Die letzte Nacht. Die letzte Tour. Und noch
eine gute Tat.
Nach
ein paar Minuten sieht er sie aus dem Haus kommen. Mit Abstand die
schönste Frau, die in den letzten Jahren regelmäßig zu ihm ins
Auto stieg, um bis zur nächsten Kreuzung oder einmal um den Block
mitzufahren. Sie arbeitet bei einem Kulturinstitut. Was immer das
auch ist. Wenn sie das sagt klingt das gut. Und irgendwie wichtig.
Sie hat wilde, tiefschwarze Locken und zelebriert die Makellosigkeit
ihrer Erscheinung mit zeitloser Eleganz. Er hat von Mode keine
Ahnung. Von Fashion erst recht nicht. Aber er erkennt Stil. Und davon
hat sie jede Menge. Das ist in der selbsternannten Modemetropole doch
recht selten. Wenn alle so tun, als wäre Mode dazu da, sich eine
Note zu geben, die unverwechselbar macht, warum sehen die dann alle
irgendwie gleich aus?
Sie
öffnet die Tür auf der Beifahrerseite und verbindet schwungvolles
Einsteigen und Platz nehmen mit einem überschwenglichen Kuss auf die
Wange. Sie mag ihn. Das weiß er. Er weiß auch, dass sie einsam ist.
Ab und an stellt sie kleine Videos von sich ins Netz. Anonym. Sie
sitzt dabei nackt vor ihrem Computer und masturbiert. Der
Bildausschnitt der Webcam reicht vom Hals bis zu den Knien. Im Zimmer
ist es dunkel. Der matthelle Schein des Monitors taucht ihren Körper
in ein diffuses Licht und gibt ihrer Haut einen weichen und perfekten
Schimmer. Eine idealisierte Wichsvorlage. Unglaublich schön.
Vielleicht weiß das nur er. Sein Privileg als stiller
Zeremonienbereiter. Er weiß viel über seine Kunden. Sie vertrauen
sich oft an. Das mag den Zuständen geschuldet sein. Dem hohen Puls.
Der Euphorie. Der Erwartung. Oder der Sucht. Oder einfach dem
Umstand, dass sie glauben sich mit einem Geheimnis in guter
Gesellschaft zu befinden.
Gute
Gesellschaft hat sie nötig. Das spürt er. Er hält den Wagen etwas
weiter die Straße runter, ein paar Meter vor einer Videothek mit
ausgewähltem und spezialisiertem Repertoire: Film Noir, Splatter,
Arthaus, Retrospektiven, Reihen, Schlingensief, Versionen in
Originalsprache im Director' Cut und Filme, die man nie gesehen hätte
und nicht will. Er drückt ihr das letzte Briefchen in die Hand. Das
Letzte von grob geschätzt zig tausenden. Das allerletzte würde er
gern sagen. Doch Abgänge wie diese, wie der seine, heute in dieser
Nacht, müssen still und unbemerkt ablaufen. Polnisch nennt man das.
Warum weiß er auch nicht. Er bittet sie das Briefchen mit dem netten
Typen zu teilen, der im Begriff ist den Laden abzuschließen. Er
zeigt auf ihn. Sie nickt. Timing ist alles. Sie schaut ihn kurz
fragend an und will doch keine Antwort. Es liegt in der Luft. Heute
passiert was. Sie steigt aus, lächelt ihn ein letztes Mal an,
schließt die Tür und läuft winkend auf die Videothek zu. Sie
werden sicher ein bisschen miteinander reden. Vielleicht auch mehr.
Vielleicht gehen sie auch zusammen in die Bar gegenüber. Er weiß,
dass sie dort gerne hingeht. Und von ihm weiß er es auch. Er weiß
eigentlich ziemlich genau, in welchen Läden sich seine Kunden gerne
aufhalten. Er würde alle diese Orte im Schlaf finden. Er würde
jetzt gerne ganz lange Schlafen.
Er
macht sein Telefon aus, nimmt es aus der Halterung links über dem
Amaturenbrett, entfernt die Sim-Karte und wirft sie aus dem Fenster.
Er streift sich das kleine Headset vom rechten Ohr und schaut ein
letztes Mal der Gewohnheit geschuldet in Rück- und Seitenspiegel.
Dann lässt er einmal mit aller Schärfe, ohne spürbar und sichtlich
den Kopf zu bewegen, den Blick kreisen. Fast wie in Zeitlupe. Oder
wie in einem Blockbuster mit DeNiro. Ein geübter Gangsterblick. Eine
Notwendigkeit. Niemals hätte er sich verziehen, unachtsam gewesen zu
sein. Man darf seiner eigenen Philosophie nie untreu werden. Die
Gier. Die verdammte Gier. Wie oft hatte er sie gespürt. Doch da war
keiner. Nie war da irgendjemand an ihm dran. Und so wird es auch
bleiben. Er ist raus. Er fährt jetzt nach Hause. Zu seiner Frau. Zu
seiner Tochter.
Er
sieht die beiden vor der Videothek stehen. Sie lachen, gehen über
die Straße und steuern auf den Eingang der kleinen Bar zu. Sie sehen
gut aus. Irgendwie passen die zwei zusammen. Er hat ein gutes Gefühl
bei der Sache. Sie werden sich nach dieser Nacht wiedersehen. Er ist
sich ganz sicher. Heute ist etwas passiert. Und vielleicht werden sie
ihn nicht vergessen. Vielleicht werden sie sich erinnern. Vielleicht.
Und wenn alle anderen ihn bald vergessen, dann hat er alles richtig
gemacht.
Er
dreht den Zündschlüssel um. Der Dieselmotor fängt kaum merklich an
zu Arbeiten. Er setzt den Blinker. Alles und wie immer ordnungsgemäß.
Der Ringfinger seiner linken Hand drückt mit gespielter Anmut und
ehrlicher Erleichterung einen ins Lenkrad eingelassenen Schalter und
entstummt das laufende Radioprogramm. Klick bumm klack bumm. Ein
beliebiger Mischmasch aus House und seichter Disko. Fahrstuhlmusik
für Fortgeschrittene. Genau das richtige. Die Straße ist leer und
doch hat er das Gefühl sich in den laufenden Verkehr einzuordnen.
Als würde man einfach so in etwas aufgehen und nie wieder als der
zurückkehren, der man mal war.