Sonntag, 11. Juli 2010

Flieg zum Mond und bleib hier

Es sind die unterschiedlichen und doch seelenverwandten gesellschaftlichen Gruppen, die das Bild der Stadt in diesen Tagen prägen. Erst waren es die weniger wichtigen Teilnehmer der Bundesversammlung, die sich dachten, dass der Sommer die ideale Zeit sei, um Laientheater in Form einer Groteske aufzuführen und aus ihrer Mitte einen erkoren, der sich nun in präsidialen Würden schmücken könnte, das Amt aber leider nicht auszufüllen vermag. Ein schreckliches, aber heutzutage leider überall anzutreffendes Phänomen. Eine furchtbare Posse. Doch die politische Entscheidungselite hatte ihren großen Sommerauftritt und jetzt sind es die wirklich wichtigen Menschen die durch die Stadt geistern, vornehmlich in Mitte, am Bebelplatz, dazwischen und natürlich an, in und um die vielen Off-Locations, die geheimen und wundersamen Orte, an denen Goodie-Bag, Flying Buffet und Wodka-Mix-Getränke für umme noch etwas bedeuten. Jetzt sind sie in der Stadt, die Meinungsmacher, die Trendsetter, die Stars, die Sternchen, die Mondlandschaften. Ganz wunderbar.

Eine Freundin meinte gestern, dass es schlimm wäre, diese ganzen dünnen Jungs in Röhren- oder Pseudo-Capri-Hosen, mit feschen Indie-Scheitel, Stoffschühchen, Stofftäschchen und diesem unverkennbaren und unvergleichlichen Blick des Insiders, des Fashionista, des Kenners. Aber zumindest bekommen die Nutten auf der Oranienburger Straße mal wieder für ein paar Tage Konkurrenz in Sachen Outfit und Geschmack. Das man eben jenen auch für viel Geld nicht kaufen kann, ist ja schon länger bekannt, doch scheint es so, als würden das viele Besucher, sei es zugereist oder ansässig, nicht wahrhaben wollen und so tragen viele Modegänger Gesicht und Klamotten spazieren, die daran erinnern, wie arm sich so mancher fühlen muss und in wie viel Facetten sich Hilf- und Hoffungslosigkeit in Gesichtern und Gesten bemerkbar machen kann. Das ist schrecklich. Die Aura der Ergebenden. Ich frage mich manchmal, ob ich es jemals wieder los werde, ob ich jemals wieder rein sein kann. Hans Henning meinte, er fürchte, dass es schwer wird: die Verlockungen und Verheißung unserer aktuellen Kultur des Mit-, Gegen- und Durcheinanders seien zu groß, die Annehmlichkeiten ausreichend um sich nicht arm zu fühlen und die praktizierte Lust an Selbstverständnis und Selbstbefriedigung eine fast perfekte Grundlage für inhaltsfreie Kommunikation, den perfekten Zeitvertreib, das perfekte Ablenkungsmanöver. So lässt es sich leben in Berlin: boheme, bumsfidel und ohne Bedeutung. So macht das Leben Spaß. Hurra!

Hans Henning hat recht, ich fürchte ich bin verdorben. Einer von vielen. Mehr Fickstern als Fixstern. Doch ich fürchte es wird keine Schlacht geben, in der man sich mit dem Blut der Feinde und den Tränen der Überlebenden reinwaschen könnte. Keine finale Niederlage. Kein Triumph. Kein Ende in Sicht. Die Befreiung aus der Unzurechnungsfähigkeit hat gerade erst begonnen. Hans Henning hat vorgeschlagen wandern zu gehen. Ein Blutwunder wäre mal ein Anfang. Oder wie Kilian Kerner, einer der jungen, zeitgenössischen Poeten unserer Tage zur Fashion Week so schön formuliert hat: „Flieg zum Mond und bleib hier“. Verdammt, ich bin heute so voller Hass, so eitel, so verletztlich.